Rede von Agnieszka Wolk-Laniewska, Chefredakteurin der Wochenzeitung “NIE“, Polen, auf der Europäischen Konferenz am 2. November 2024

Grüße aus Polen.

Leider gibt es keine „polnische Friedensbewegung“. Die Menschen haben einfach Angst, ihre Meinung zu sagen – das Wort „Frieden“ ist zu einem schmutzigen, unanständigen Wort geworden.

Kürzlich schrieb die „Financial Times“, dass „Polen durch den Kauf von Waffen in Rekordgeschwindigkeit zu einem Star-Mitglied der NATO geworden ist. Warschau wird in diesem Jahr 4,1 Prozent des polnischen BIP für Verteidigung ausgeben – das ist etwas mehr als das Doppelte des NATO-Ziels und liegt vor den USA“. Aber das ist noch nicht alles: Im Haushalt 2025 hat die Regierung von Premierminister Donald Tusk 4,7 Prozent des BIP – 43,5 Milliarden Euro – für Rüstungsgüter bereitgestellt. Zum Vergleich: Das gesamte polnische Gesundheitsbudget beläuft sich auf 51,5 Milliarden Euro. Und niemand stellt sich dem entgegen.

Die polnische Linke hat sich gerade gespalten. Die Partei Razem („Zusammen“), die als radikal links gilt (tatsächlich ist sie nur eine anständige Sozialdemokratie), hat die parlamentarische Fraktion der Vereinigten Linken verlassen, die Teil der regierenden Koalition ist. Adrian Zandberg, de facto Vorsitzender von Razem, erklärte: „Die Regierung hat einen schlechten und unsozialen Haushaltsplan ins Parlament eingebracht, der die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Haushaltsangestellten trifft, der sehr geizig ist, wenn es um Wissenschaft, Forschung, Entwicklung und Wohnungsbau geht, aber sehr großzügig gegenüber Millionären, Banken und Bauträgern ist“. Er hat recht. Aber – beachten Sie – kein Wort über Rüstungsausgaben. In Polen wird man automatisch zum russischen Agenten, wenn man die Rüstungsausgaben in Frage stellt. Dafür gibt es ein spezielles Wort: ruska onuca. Onuca ist ein Stück Stoff, das von der sowjetischen Armee anstelle von Socken verwendet wurde.

Die Kriegstreiberei funktioniert: Im Dezember letzten Jahres, zu Beginn der neuen Regierung, glaubten 64 Prozent der Polen, dass die Verbesserung des Gesundheitssystems Priorität haben sollte. 38 Prozent gaben die Inflationsbekämpfung an und die Abmilderung und ihrer Auswirkungen, 34 Prozent die Aufrechterhaltung der Sozialtransfers. Nur 36 Prozent sprachen sich für Investitionen in Verteidigung und Sicherheit aus. Im April ergab die von IBRiS durchgeführte und von der seriösen Tageszeitung „Rzeczpospolita“ in Auftrag gegebene Umfrage, dass 53,6 Prozent nicht befürchteten, dass der Krieg in der Ukraine auf unser Land übergreifen würde; 27,3 Prozent waren anderer Meinung und ganze 19,1 Prozent hatten überhaupt keine Meinung dazu. Aber im Juli, nach einigen Monaten der Kriegsrhetorik des Premierministers, waren in der CBOS-Umfrage 71 Prozent der Befragten der festen Überzeugung, dass sich die Regierung von Donald Tusk in erster Linie mit der „Verbesserung der Sicherheit des Staates und der Stärkung der Verteidigung“ befassen sollte.

Im Oktober kündigte Donald Tusk, der eigentlich als liberaler Europäer der Mitte gilt, aber den starken Mann markieren will, an, dass er „das Recht auf Asyl vorübergehend aussetzen“ werde. In der von SW Research für „Rzeczpospolita“ durchgeführten Umfrage wurden die Menschen gefragt, wie sie Tusks Ankündigung einschätzen. 49,4 Prozent der Befragten antworteten „positiv“. Die Worte von Tusk wurden von 24,1 Prozent der Befragten negativ bewertet. 26,6 Prozent der Befragten haben keine Meinung zu diesem Thema.

Was die Einstellung gegenüber Gaza angeht, ist es noch schlimmer. Die meisten Polen leben in einem „osteuropäischen Kokon“, in dem der russisch-ukrainische Konflikt das einzige Problem der Welt ist, sodass uns die anderen Gräueltaten, die wir in Echtzeit beobachten können, nicht sonderlich interessieren. In einer Umfrage vom 19. April – an diesem Tag jährte sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum 80. Mal, sodass es zu einer Art emotionaler Erpressung kam – gaben 66,7 Prozent der Befragten an, dass Polen in diesem Konflikt keine Stellung beziehen sollte. 6 Prozent würden sich auf die Seite der Israelis stellen, 10,9 Prozent gaben an, dass Polen die Palästinenser unterstützen sollte. Einen Monat später ergab eine andere Umfrage, dass 66 Prozent der Polen der Meinung sind, dass Israel durch seine Einsätze im Gazastreifen Kriegsverbrechen begeht. Wir wissen also, dass dort ein Völkermord stattfindet – es ist uns nur egal.

Ich sehe keine Chance, diese Einstellung in nächster Zeit zu ändern. Vor allem, weil sie offiziell nichts mit dem sozialen Krieg zu tun hat: Wir haben angeblich die niedrigste Arbeitslosenquote in der EU – 2,9 Prozent. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt: Massenentlassungen gibt es überall, in staatlichen und privaten Unternehmen. Wir haben ein recht symbolisches Arbeitslosengeld, vielleicht melden sich die Leute deshalb einfach nicht arbeitslos. Die Lage im öffentlichen Gesundheitswesen ist katastrophal, aber das ist sie schon seit Jahren. Die für das nächste Jahr geplanten Budgeterhöhungen sind symbolisch – aber die Mitarbeiter sind daran gewöhnt. Ich fürchte, dass nur ein schwerer Konjunktureinbruch unsere Einstellung ändern wird.

Und auf diesen Moment müssen wir vorbereitet sein. Dank Konferenzen wie dieser wird es ein wenig realer.

Für das polnische Verbindungskomitee „Gegen Krieg – gegen Sozialkrieg“

Agnieszka Wolk-Laniewska, Chefredakteurin der Wochenzeitung “NIE“

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