„Für diese Leute ist der Krieg ein Segen. Und sie wollen nicht, dass er endet.“
Hallo, Kollegen. Mein Name ist Andrej. Ich komme aus Odessa in der Ukraine. Seit mehr als drei Jahren bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Und ich weiß genau, dass ich, wenn ich zurückkehre, Kanonenfutter für diesen Krieg sein werde. Ich habe Freunde in meiner Heimatstadt, die jeden Tag Bombardierungen hören. Vor sechs Monaten wurde mein Onkel zwangsweise zur Armee eingezogen. Er war nur kurz Brot kaufen gegangen, als die Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros ihn wie einen gewöhnlichen Kriminellen von hinten angriffen, ihm die Arme verdrehten und ihn gefesselt in ein Militärfahrzeug warfen. So sieht der Alltag in meinem Land aus.
Seit dreieinhalb Jahren sind alle dieses endlosen Albtraums überdrüssig. 80.000 Tote, 390.000 Verletzte. Selbst im Hinterland sind die Menschen moralisch und psychisch erschöpft. Sie sind deprimiert. Selbst wenn man die Front, die Bombardierungen und die menschlichen Verluste außer Acht lässt, ist die Lage kritisch. 75 % des Staatshaushalts fließen in den Krieg. Die Wirtschaft ist in einem desolaten Zustand. Die Preise steigen täglich. Viele Produkte sind genauso teuer wie in Paris. Aber die Löhne sind viel niedriger. Zwischen 6 und 8 Millionen Ukrainer haben das Land verlassen. Fast die Hälfte von ihnen will nicht zurückkehren. Die Menschen befürchten, in ihrer Heimat nur Ruinen und Verwüstung vorzufinden.
Mehr noch als russische Drohnen und Raketen fürchten die Ukrainer die Zwangsmobilisierung. Das Militär jagt Männer im wehrfähigen Alter wie Wild. Sie können sie überall finden: in Verkehrsmitteln, in Geschäften, am Arbeitsplatz, auf der Straße. Es ist unmöglich, seine Rechte zu verteidigen und aus gesundheitlichen Gründen oder Überzeugung zu verhindern, dass man an die Front geschickt wird. Ihr versteht sicher, dass die Leiden des Krieges ungleich verteilt sind. Ich spreche gar nicht von den Beamten, Oligarchen und Geschäftsleuten, die für den Krieg arbeiten. Diese leben in Luxus und laufen nicht Gefahr, in den Schützengräben zu landen. Wie immer sind es die Armen, die den Preis mit ihrem Blut bezahlen.
Es überrascht nicht, dass allein in den letzten Monaten 15.000 Menschen illegal aus der Ukraine geflohen sind, wobei sie ihr Leben riskierten, indem sie Flüsse überquerten und den Grenzsoldaten entkommen mussten. Die Lage an der Front ist noch beängstigender. Nach den neuesten ukrainischen Daten sind etwa 350.000 Soldaten desertiert.
Es besteht kein Zweifel, dass die Hauptverantwortung für diese Katastrophe bei Wladimir Putin liegt, der mein Land besetzen will. Das weiß jeder, aber ich möchte zwei weitere Verantwortliche für diese Katastrophe nennen, die meist vergessen werden. Da sind zunächst einmal die herrschenden Klassen der westlichen Länder. Sie betrachteten die Ukraine als Verhandlungsmasse in ihrem geopolitischen Spiel. Sie unterstützten korrupte neoliberale Regierungen, die den Nationalismus nutzten und die Widersprüche zwischen den Ukrainern in Bezug auf Sprache und Kultur schürten. Sie unterstützten aktiv den rechten Staatsstreich auf dem Maidan im Jahr 2014, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Sie sprachen von Freiheit und Wohlstand, nutzten die Ukraine jedoch zynisch als Kolonie, als Quelle für Ressourcen und billige Arbeitskräfte. Auch heute noch nutzt Donald Trump die dramatische Lage meines Landes aus, um ihm ein demütigendes Kolonialabkommen aufzuzwingen, durch das der größte Teil des nationalen Reichtums und der Ressourcen in den Besitz des amerikanischen Kapitals übergegangen ist. Für die derzeitigen europäischen Regierungen ist die Ukraine ein Instrument im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft mit Russland. Der Tod ukrainischer Bürger interessiert sie nicht.
Ein Teil der Verantwortung liegt auch bei der Regierung von Wolodymyr Selenskyj und der ukrainischen Führungsklasse. Für die meisten Ukrainer bedeutet jeder Tag des Krieges neue Tote und neues Leid, aber all die Jahre haben viele Unternehmen enorme Gewinne mit Militäraufträgen gemacht. Für diese Leute ist der Krieg ein Segen. Und sie wollen nicht, dass er endet. Sie verfügen über eine mächtige Waffe: die nationalistische Ideologie. Es geht nicht nur um die extreme Rechte, die einen erheblichen Einfluss im Land und in der Armee hat. Sondern auch zum Beispiel um die Ziele des Krieges.
Um welches Programm handelt es sich? Es geht um die Grenzen von 1991. Es geht um die Beibehaltung der aktuellen Struktur des ukrainischen Staates, also um die Konzentration der Macht in Kiew. Und natürlich geht es um die weitere Integration der Ukraine in die imperialistischen Strukturen, die Europäische Union und vor allem die NATO. Für dieses Programm sterben heute Soldaten an der Front.
Aber es ist in der Gesellschaft nicht populär. Außerdem schadet dieses nationalistische Programm der Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit.
Nach Angaben des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew sind 82 % der Ukrainer für einen sofortigen Waffenstillstand mit Verhandlungen, auch wenn dies Zugeständnisse an den Aggressor bedeutet. Diese Zugeständnisse können vielfältig sein. Aber für die große Mehrheit der ukrainischen Bürger ist die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit die rote Linie.
Die derzeitige Politik von Selenskyj steht in völligem Widerspruch zu diesen Zielen. Erstens verwandelt das herrschende Regime das Land vor unseren Augen in eine Rohstoffkolonie für die Vereinigten Staaten von Donald Trump und in ein Protektorat Europas. Zweitens ähnelt mein Land mit dem Krieg immer mehr dem imperialen Russland Putins. Uns wird gesagt, dass wir für die Freiheit kämpfen. Aber jeden Tag werden vor den Augen Tausender Menschen auf der Straße verhaftet und in den Tod geschickt. Drittens raubt der unbegrenzte Kriegszustand dem Volk sogar der letzten Überreste der bürgerlichen Demokratie. Das ist keine Freiheit, das ist Sklaverei. Uns wird gesagt, dass wir für eine gerechte Welt kämpfen. Aber wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn die Armen in den Schützengräben sterben müssen, während die Reichen in Luxus schwelgen? Der Staat hat Geld für öffentliche Einrichtungen, Drohnen und Raketen, aber nicht für Flüchtlinge, Arbeiter und Rentner. Und Kriegsversehrte sind zum Elend verdammt.
Keine Macht kann Menschen zwingen, für ein Land zu kämpfen und zu sterben, das ihnen nicht gehört, das sie wie Sklaven und Kanonenfutter behandelt.
Wenn wir das ukrainische Volk unterstützen wollen, müssen wir zunächst unsere Ziele neu formulieren.
Und vor allem: Unser Ziel ist Frieden, nicht Krieg bis zum „Sieg”.
Zweitens dürfen Menschen nicht für fremde Interessen sterben. Für die geopolitische Vorherrschaft der USA oder Europas. Für die militärische Macht der NATO. Wir müssen den Menschen das Recht zurückgeben, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Selbstbestimmung ist kein abstraktes Wort. Es ist die Möglichkeit für die Menschen, selbst zu entscheiden, welche Sprache sie sprechen wollen, welche Kompetenzen sie mit der Hauptstadt teilen wollen. Und vor allem, wie sie über den nationalen Reichtum verfügen wollen.
Drittens müssen wir sofort auf die von der herrschenden Klasse aufgezwungenen geopolitischen Chimären verzichten. Die Welt der Blockpolitik ist gescheitert: Sie hat bereits zu einem Blutbad geführt. Wir dürfen nicht für die Vorherrschaft anderer kämpfen. Sei es die von Moskau, Washington oder Brüssel. Die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine sind nur in einer Welt gleichberechtigter Völker möglich!
Was auch immer die Kriegspartei sagen mag, dieses Friedensprogramm ist die einzige Rettung für mein Land.
Aber – und das ist vielleicht die beängstigendste Frage – wird Wladimir Putin es akzeptieren? Ich weiß es nicht. Vielleicht wird er dieses Programm mit Verachtung ablehnen. Aber dieses Programm des Friedens und der Gleichheit wird von den Völkern – in der Ukraine, in Russland, in Europa und auf der ganzen Welt – befürwortet werden. So mächtig der Diktator im Kreml auch sein mag, er wird die Völker der ganzen Welt nicht besiegen können. Vor allem nicht, wenn sich unsere russischen Genossen uns anschließen, um gegen Krieg, Militarismus, Ungleichheit und Kolonialismus zu kämpfen.
Siehe auch:
➯ Internationale Konferenz gegen den Krieg in Paris am 4./5. Oktober 2025 – Beiträge
➯ Alexandre Voronkov, Russland, auf der internationalen Konferenz am 4./5.10.2025 in Paris
„Der Gesellschaft wieder eine politische Alternative bieten“